Der philosemitische Wahn des Sascha Lobo
Sascha Lobo ist ein Paradebeispiel zu was narzisstische Erinnerungskultur und liberaler Anti-Antisemitismus führt.
Nürnberg 2015: 400 Zuschauer erwarten den Gastredner des Forum Wellpappe auf der Fachpack 2015, dem Jahreskongress der deutschen Verpackungsindustrie. Der Gastredner, der vom Verband der Wellpappe-Industrie e.V. eingeladen wurde, ist Sascha Lobo, Deutschlands Digital-Experte, Internet-Erklärer und Alpha-Blogger, erklärt Herstellern von Wellpappe, warum sie sich auf die digitale Wirtschaft vorbereiten müssen. Der damals 40-Jährige ist auch heute noch ein gefragter Redner für alles Digitale. Er ist die prominenteste Stimme, die ihren Lebensunterhalt damit verdient, praktisch jedem, der ihn anheuert, die Gefahren und Chancen des digitalen Zeitalters zu erklären.
Gurke, Gespräch, Geschlechtsverkehr
Lobo ist eher unscheinbar und man könnte ihn leicht mit dem Vorsitzenden des örtlichen Schrebergartenvereins verwechseln, hätte er nicht seinen typischen Haarschnitt, einen rosa-roten Irokesenschnitt. Extravagantes Auftreten scheint schon immer Lobos Modus Operandi gewesen zu sein. Zeitgenossen berichten, dass er in jüngeren Jahren mit einer Sonnenbrille im Gesicht, einem Fuchsfell um den Hals und einer Gurke in der Hand zu Partys erschien: das Fuchsfell, um aufzufallen, die Gurke als Requisite, um Gespräche anzuregen. Laut Lobo der 3G-Plan: Gurke, Gespräch, Geschlechtsverkehr; ob er je erfolgreich war, ist nicht überliefert. Nach einer kurzen Zeit als erfolgloser Inhaber einer digitalen PR- und Werbeagentur in den frühen 2000er Jahren wurde Lobo freiberuflicher Marketing- und Strategieberater, Redner, Buchautor und seit 2011 Kolumnist für den Spiegel und erklärt seit dem seinen Leser*innen die (digitale) Welt.
In seiner Rolle als Kolumnist wandelte sich Lobo langsam vom Meister des Digitalen zum vermeintlichen Alleskönner, indem er begann, über alles zu schreiben, was ihm gerade so in den Sinn kam, oft mit äußerst wenig oder gar keinem Fachwissen. Kein Themengebiet macht dies deutlicher als die zehn Kolumnen, die er seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober über Israel und Gaza verfasst hat. Kurz gesagt, seine Äußerungen und Argumente sind eine Reihe von Copy-and-paste-Jobs, die aus Pressemitteilungen israelischer Militär- oder Regierungssprecher, jahrzehntealter, ahistorischer und längst widerlegter Propaganda aus Broschüren der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zusammengeschustert sind, und das eingebettet in ein Phantasialand Israel, welches es so nur in Lobos Vorstellung gibt. Lobos Veröffentlichungen geben nicht den Eindruck, dass er sich jemals sinnvoll mit Literatur beschäftigt hat, die nicht der deutschen Staatsräson genehm ist.
Guter und schlechter Hass
In seinem ersten Beitrag nach dem 7. Oktober appelliert er an seine Leser*innen, dass der Angriff auf Israel nicht kontextualisiert werden dürfe und dass sie, wenn sie für Black Lives Matter und gegen die AfD seien, auch bedingungslos Israel unterstützen sollten. Im selben Text wird jedoch argumentiert, dass der wachsende Extremismus in der israelischen Gesellschaft durch die permanente Bedrohung durch palästinensische Raketenangriffe zu erklären ist und nicht beispielsweise durch den Militarismus, der zur Aufrechterhaltung einer 57-jährigen Besatzung der Westbank erforderlich ist. Die offensichtliche Frage, die seine eigene Behauptung aufwirft, wird nie gestellt und schon gar nicht beantwortet:
Wenn die Radikalisierung der israelischen Gesellschaft das Ergebnis palästinensischer Angriffe sein soll, welche Formen der Radikalisierung würden dann eine jahrzehntelange Besatzung und die Erschaffung eines Ghettos unter dessen Opfern hervorbringen?
Für Lobo ist klar: Der Hass und die Gewalt, die Israelis und der Staat Israel an den Tag legen, sind ein Ergebnis historischer, geografischer und materieller Bedingungen. Der Hass, den die Palästinenser auf Israel hegen, ist ihnen innewohnend, er ist ihnen scheinbar angeboren und daher ungerechtfertigt. Dies wird am deutlichsten, wenn jeder Akt des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung, ob friedlich oder gewaltsam, in erster Linie durch irrationalen Hass auf Juden erklärt wird, und nicht durch einen rationalen Hass auf die Besatzung und diejenigen, die sie aufrechterhalten. Lobo scheint zu glauben, dass Palästinenser*innen weniger Widerstand leisten würden, wenn ihre Besatzer einer anderen ethno-religiösen Gruppe angehören würden.
Die Kolumne mit dem Titel „Die Hamas-Propaganda des Weglassens“ widmet sich den palästinensischen Opfern des israelischen Angriffs auf Gaza – nicht auf einfühlsame Weise, sondern auf eine Weise, die die Anzahl der vom Gesundheitsministerium des Gazastreifens gemeldeten Opferzahlen infrage stellt. Während Lobo es vermeidet, die Zahlen offen als falsch oder erfunden zu bezeichnen, stellt er die Zahlen der palästinensischen Opfer stattdessen als Hamas-Propaganda dar. In einer nicht überraschenden Wendung lässt der Artikel jedoch aus, dass das Gesundheitsministerium in Gaza seit langem nicht nur von den Vereinten Nationen und allen großen Menschenrechtsgruppen, sondern auch von den israelischen Geheimdiensten selbst als zuverlässige Quelle angesehen wird.
In demselben Artikel wird argumentiert, dass die Unterbrechung der Wasser- und Stromversorgung für Gaza durch Israel keine Form kollektiver Bestrafung, also ein Kriegsverbrechen, sondern lediglich ein Entzug des guten Willens und der freiwilligen Hilfe seitens Israels bei der Wasserversorgung Gazas vor dem 7. Oktober sei. Denn laut Lobos Expertise ist Israel nicht für die Wasserversorgung des Gazastreifens verantwortlich, obwohl Israel die international anerkannte Besatzungsmacht ist, die die Wasserversorgung kontrolliert. Israel ist die international anerkannte Besatzungsmacht, die jeden Lebensaspekt in Gaza und im Westjordanland kontrolliert. Ironischerweise gelingt es Lobo, sich selbst davon zu überzeugen, dass andere sich der Propaganda des Weglassens schuldig gemacht haben, natürlich durch das Weglassen etablierter und weltweit anerkannter Fakten.
Lobo fordert die Auflösung von UNRWA
Sein bis jetzt menschenverachtendster Artikel erschien jedoch Mitte Februar 2024, als Lobo inmitten der von Israel verursachten humanitären Katastrophe und der aufkommenden Hungersnot in Gaza die Auflösung des Uno-Flüchtlingshilfswerk UNRWA unter der trotzigen Überschrift „Löst endlich das Palästinenserhilfswerk auf“ forderte. Darin bescheinigt er UNRWA, Interessen mit der Hamas zu teilen, welche Interessen das genau sind, bleibt er seinen Leser*innen schuldig. Ihn scheint es wenig zu interessieren, das UNRWA die einzige Organisation in Gaza ist, die in der Lage ist, die Hungersnot einzudämmen und weiteres Massensterben zu verhindern, vorausgesetzt sie wird weiterhin ausreichend finanziert und ihre Konvois und Helfer nicht vom israelischen Militär angegriffen und getötet. Seit Beginn der Offensive in Gaza hat Israel 220 humanitäre Helfer*innen getötet.
Lobos größter Groll gegen UNRWA besteht jedoch darin, dass es sich um eine Institution handelt, welche die rechtlichen Ansprüche palästinensischer Flüchtlinge auf Rückkehr in ihr Heimatland, aus dem sie seit 1947 von Israel ethnisch gesäubert wurden, aufrechterhält. Wenn es nach ihm ginge, würde UNRWA palästinensischen Flüchtlingen helfen, sich in den Gesellschaften der umliegenden Staaten zu assimilieren. Da Palästina kein von den UN anerkannter Staat ist, verfügen Palästinenser in der Regel nicht über einen offiziellen Pass, der ihre nationale Identität nachweisen könnte. Zugegebenermaßen stellt die Palästinensische Autonomiebehörde Pässe aus, dabei handelt es sich jedoch im Wesentlichen um glorifizierte Reisegenehmigungen, die nur Bewohnern des Gazastreifens und des Westjordanlandes (mit Ausnahme von Ostjerusalem) erteilt werden, vorausgesetzt, sie verfügen auch über einen von der israelischen Zivilverwaltung, welche dem israelischen Militär und Inlandsgeheimdienst unterstellt ist, ausgestellten Ausweis. Ohne UNRWA gibt es keine international anerkannte Organisation, die die Existenz der Palästinenser als Ganzes bescheinigt. Auch wenn die Motivation hinter Lobos Forderung, die UNRWA aufzulösen, oberflächlich betrachtet eine andere sein mag als die von Netanyahu, wird das Ergebnis das sein, was Netanyahu beabsichtigt: die kulturelle Zerstörung der palästinensischen Diaspora als anerkannte nationale Gruppe mit anerkannten Rechten und territorialen Ansprüchen. Lobo entschloss sich, diesen Artikel zwei Wochen, nachdem der Internationale Gerichtshof entschieden hatte, dass ein Völkermord in Gaza plausibel ist, und Israel daher angewiesen hatte, Maßnahmen zu dessen Verhinderung zu ergreifen, veröffentlicht.
Antisemitismus als Antrieb
Wer auf all dies hinweist, sei, so Lobo antisemitisch motiviert. Antisemitismus ist in Lobos verdrehter Logik die treibende Kraft des palästinensischen Widerstands. Es sei auch die treibende Kraft all jener, die es wagen zu fordern, dass die Menschlichkeit und die universellen Rechte von Palästinenser*innen als solche bedingungslos anerkannt werden müssen. Sascha Lobo ist in den letzten sechs Monaten nicht nur zum „Experten“ für Palästina und Israel, sondern auch für Antisemitismus geworden. Wenn jemand Antisemitismus als Hauptmotivation jedes sozialen Phänomens im Zusammenhang mit Palästina und Israel sieht, dann muss Antisemitismus natürlich überall diagnostiziert werden, und Lobo versichert seinen Lesern*innen, dass dies tatsächlich der Fall ist:
“Judenhass schafft das schier unglaubliche Kunststück, sich zugleich überall zu verstecken und ganz offen zutage zu treten. Immer wieder kommen neue Varianten hinzu und uralte Judenhasspraktiken werden neu interpretiert: nazistischer Antisemitismus, islamistischer Antisemitismus, rechter Antisemitismus, linker Antisemitismus, christlicher Antisemitismus, muslimischer Antisemitismus, völkischer Antisemitismus, postkolonialer Antisemitismus, bürgerlicher Antisemitismus, woker Antisemitismus, verschwörungstheoretischer Antisemitismus, vulgärantikapitalistischer Antisemitismus, pseudoantirassistischer Antisemitismus, intellektueller Antisemitismus, akzeptierender Antisemitismus, Selbstentlastungsantisemitismus und neben vielen weiteren als derzeit größte Strömung: israelbezogener Antisemitismus. Oft angereichert mit einem neuen, altbekannten Vernichtungsantisemitismus.”
Diese Proklamation schürt nicht nur noch mehr Angst in den ohnehin schon verängstigten jüdischen Gemeinden, sie verharmlost zudem rechten Antisemitismus als eine von unzähligen Formen des Antisemitismus, obwohl er bei weitem die häufigste und gewalttätigste Form des Antisemitismus in Deutschland ist. Letztendlich ist diese Auflistung nichts anderes als ein Eingeständnis, die Ängste und das Leid jüdischer Menschen zu missbrauchen, um Antisemitismus für jedes Problem zu instrumentalisieren, welches ihm nicht passt, ob berechtigt oder nicht.
Methode Mundtotmachen
Wer sich mit Lobos Gesamtwerk nach dem 7. Oktober beschäftigt, wird feststellen, dass sein vorrangiges Ziel nicht darin besteht, jüdisches Leben zu verteidigen, sondern Israel vor Kritik zu schützen. Er zeigt in seinen Schriften und Podcast-Auftritten, dass er offensichtlich nicht in der Lage ist, zwischen Juden und Jüdinnen als Einzelpersonen oder Gemeinden und dem Staat Israel zu unterscheiden. Es ist nicht einmal klar, ob er die Existenz anti-zionistischer Juden und Jüdinnen anerkennt. Lobo projiziert die katastrophale Geschichte europäischer Juden und Jüdinnen auf Israel, einen nuklear bewaffneten Staat und regionalen Militär-Goliath, und erklärt es unabhängig von den Umständen zum ewigen Opfer. Wer dem widerspricht und sich dieser Logik verweigert, wird mit Lobos Lieblingsphrase, Täter-Opfer-Umkehr, mundtot gemacht.
Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1969 diagnostizierte Theodor Adorno der deutschen Nachkriegsgesellschaft (er nannte sie das „nachhitlersche Deutschland“, obwohl er von dieser Formulierung nicht ganz überzeugt war) einen Philosemitismus, der sich aus den Folgen des Holocausts entwickelte, jedoch nichts anderes als die Fortsetzung des Antisemitismus ist, da er die Entmenschlichung der Juden und Jüdinnen am Leben erhielt. Es ist dieser Philosemitismus, die Entmenschlichung von Juden durch die Erhebung zu einem eindimensionalen Monolithen und Objekt mit höherem Status, die Schutz verdienen, weil sie Juden und nicht weil sie Menschen sind, der sich wie ein roter Faden durch Lobos Schriften zieht. Philosemitismus ist der rote Faden, der sich durch den gesamten deutschen Mainstreamdiskurs zu Palästina und Israel zieht. So werden unter dem Deckmantel der angeblichen Bekämpfung des Antisemitismus universale Werte durch partikularistische ersetzt.
Infolgedessen positioniert es Israel nicht nur als das Äquivalent und die Summe aller Juden, und somit als einen Staat, der ständig von der Vernichtung (d. h. einem weiteren Holocaust) bedroht ist, und rechtfertigt damit nicht nur die Notwendigkeit Israels, als Ethnostaat zu existieren, sondern auch die inhärente Gewalt eines solchen Staates als gerechtfertigt und notwendig, um genau dieses Schicksal abzuwenden. Die Annahme, dass Juden und Jüdinnen nur in einem Ethnostaat sicher sein können, der Gewalt gegen andere ausübt, ist ein implizites und angesichts Lobos Weltanschauung, in der Israel qua Definition das ewige Opfer ist, paradoxes Eingeständnis, dass Juden nur dann sicher sein können, wenn sie selbst zu Tätern von Massengewalt in Palästina und der Region werden. Um die Sicherheit von Juden und Jüdinnen im Rest der Welt nicht zu gefährden, und um den Opferstatus einer nuklearen Militärmacht aufrechtzuerhalten, muss diese Massengewalt geleugnet oder beschönigt werden. Ein Teufelskreis, der keine Seele unversehrt lässt.
Die Akzeptanz dieses Teufelskreises schwindet in der westlichen Öffentlichkeit zunehmend. Im Globalen Süden wurde diese Logik von vornherein nie wirklich akzeptiert. Selbst in Deutschland sind nur zwei Gruppen dagegen, Druck auf Israel auszuüben, damit es seinen Krieg gegen Gaza beendet: die protofaschistische AfD, einschließlich ihrer Anhänger, sowie liberale Politiker und Meinungsmacher. Sascha Lobo ist der Archetyp dieser sogenannten liberalen Meinungsmacher, die in Deutschland stolz auf ihre vermeintliche antifaschistische, antirassistische und LGBTQ+-freundliche Haltung verweisen, im Kontext von Palästina jedoch zunehmend fanatische Züge entwickeln, wenn es um die Unterstützung Israels geht. Sie leugnen die Verbrechen des israelischen Regimes und fordern paradoxerweise im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus mehr davon. Dies ist der logische Endpunkt einer fehlgeleiteten und letztlich reaktionären Erinnerungskultur, die sich für Partikularismus entschieden hat, obwohl sie sich für Universalismus hätte entscheiden müssen, und nun im Resultat den Völkermord in Gaza als neuestes Ritual liberaler Holocaust-Sühne feiert.
Die englischsprachige Originalversion dieses Artikels wurde am 26/04/2024 auf The Left Berlin veröffentlicht.