Es gibt kein Existenzrecht für Staaten, weder für Israel noch Palästina
Das Existenzrecht Israels ist eine rechtliche Fiktion, die Apartheid verteidigt und Alternativen unmöglich macht.
Das Existenzrecht Israels ist eine Formulierung die wie keine andere zur DNA des Deutschen Staates gehört. Sie ist so allgegenwärtig, dass kaum jemand fragt was sie eigentlich bedeutet oder wo sie ihren Ursprung findet. Sie ist Teil des deutschen Katechismus wie keine andere Formulierung, die zwar jede:r zu kennen scheint aber niemand so richtig weis wo sie herkommt.
Wenn man bei den Hohepriestern des deutschen Katechismus nachfragt wird man, wenn überhaupt Ernst genommen, auf Kapitel 1, Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen verwiesen:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Dieser Absatz bedeutet vereinfacht gesagt, dass Staaten einen Rechtsanspruch auf territoriale Unversehrtheit genießen der ihnen durch die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen zugesagt wird und an die jeder Mitgliedstaat rechtlich gebunden ist. Die Vereinten Nationen gehen sogar so weit, dass dieses Recht von Staaten eingefordert werden kann die nicht Mitglieder sind. Dieser Rechtsanspruch gilt aber nur solange ein Staat sich nicht gewaltsam diskriminierend gegenüber einem Teil der eigenen Bevölkerung verhält und somit das Recht auf territoriale Unversehrtheit verwirkt.
Einen weiteren Absatz, der genre als Beweis für das Existenzrecht von Israel herangezogen wird ist Kapitel 1 Artikel 1 Absatz 2 der Charta der Vereinten Nationen:
Das Ziel der Vereinten Nationen ist es “freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;”
Die “Selbstbestimmung der Völker” bezieht sich ausschließlich auf Völker und deren Recht auf einen politischen Prozess der Selbstbestimmung. Wie diese Selbstbestimmung aussehen kann wird hier ausdrücklich nicht definiert. Völkerrechtliche Selbstbestimmung kann in einen Staat münden, muss sie aber nicht. Der Grund warum dem nicht so ist wird klar wenn man bedenkt wieviele Staaten es gibt und wie viele Völker.
Das Selbstbestimmungsrecht ist kein Recht auf einen Staat
Momentan gibt es ungefähr 91 anerkannte Völker die keinen eigenen Staat haben. Weder die Schotten noch die Basken haben einen eigenen Staat obwohl beide Völker rechtlich anerkannt sind. Zwar haben beide ein eigenes Land bzw. eine eigene Region, jedoch sind sie staatlich gesehen ein Teil Großbritanniens bzw. Spaniens. In beiden Fällen ist die völkerrechtliche Selbstbestimmung durch Baskische Autonomie (seit 1979) und Schottische Devolution (seit 1998) geregelt.
Solange der Spanische oder Britische Staat Schotten und Basken nicht diskriminiert hat Großbritannien und Spanien laut Völkerrecht ein Recht auf territoriale Unversehrtheit ihrer Grenzen. Es gibt kein Recht welches Schotten und Basken einfordern können um einen eigenen Staat zu bekommen. Unabhängigkeitsbewegungen sind legitime Mechanismen Staatlichkeit zu erlangen. Sie sind aber politische Bewegungen, kein rechtlicher Prozess. Die Schottische Regierung in Edinburgh kann nicht auf das Völkerrecht verweisen und fordern, dass Westminster in London ihrem Unabhängigkeitsbestrebungen zustimmen muss nur weil Großbritannien Mitglied der Vereinten Nationen ist.
Bis jetzt haben es Spanien und Großbritannien geschafft als Staaten durch einen politischen Kompromiss gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schotten und Basken als Staaten zu überleben. Es ist nichts ungewöhnliches, dass Staaten aufhören zu existieren. Die DDR hat am 3ten Oktober 1990 aufgehört zu existieren. Apartheid Südafrika hat am 27ten April 1994 aufgehört zu existieren. Die Sowjetunion hat am 25 Dezember 1991 aufgehört zu existieren.
Der Grund warum es in den 1990ern niemand in den Sinn gekommen ist das Existenzrecht dieser Staaten einzufordern ist weil die Formulierung nicht aus dem Völkerrecht kommt sondern aus der Entstehungsgeschichte Israels und nur dort Verwendung findet.
Ein diplomatischer Schachzug mit schwerwiegenden Folgen
Der Erfinder dieser Formulierung war der Schwede Folke Bernadotte Graf von Wisborg, der am 20 May 1948 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Vermittler zwischen Israel und der Arabischen Liga ernannt wurde um ein Waffenstillstandsabkommen und letztlich ein Ende des Krieges zu verhandeln.
Bernadotte war es der das Existenzrecht Israel zum ersten mal schriftlich festgehalten hat in der Hoffnung, dass die Arabische Liga im Falle eines Friedensabkommen vertraglich daran gebunden sei. Die Arabische Liga weigerte sich so ein Recht überhaupt anzuerkennen, da es sich nicht auf das Völkerrecht berufe sondern ein diplomatischer Schachzug Bernadottes war um der rechtlichen Anerkennung Israels ein Jahr später vorauszukommen. Dieser Versuch scheiterte.
Bernadotte wurde vier Monate später von der zionistischen Terrororganisation Lehi (Stern Gang) ermordet, da sein Friedensplan auch vorsah 300,000 Palästinenser:innen die zu Beginn der Nakba ethnisch gesäubert wurden zurückkehren zu lassen.
Es wird oft behauptet, dass Yasser Arafat 1988 und Mahmoud Abbas 2011 vor dem Niederländischen Parlament das Existenzrecht Israels anerkannt haben. Diese Aussagen waren jedoch keine offizielle Anerkennung und Position der PLO und der PA, sondern diplomatische Anerkennungen eines Gesprächspartners um Verhandlungen voranzutreiben.
Was die Anerkennung Israels Existenzrecht für Palästinenser:innen bedeutet
Was im Diskurs um Israels Existenzrecht nie beachtet wird ist was es denn bedeuten würde gäbe es so ein Recht und inwiefern würde dieses Recht aus Sicht der Palästinenser:innen gedeutet werden.
Versucht man diese Fragen zu beantworten wird schnell deutlich wie problematisch diese rechtliche Fiktion ist. Ein Recht zu existieren würde bedeutet, dass die Gründung eines Staates rechtens ist und in dem Sinne gerecht. Würde man die Schottische oder Baskische Regierung fragen ob die Existenz ihres zukünftigen unabhängigen Staates rechtens, also gerecht wäre würden diese es mit Sicherheit bejahen. Im Falle Israels würde es bedeutet, dass die Gründung des Staates rechtens und demnach gerecht war inklusive der ethnischen Säuberungen seit dem Beginn der Nakba ohne die es keinen israelischen Staat geben könnte. Für die Palästinenser heißt das, dass die Anerkennung des Existenzrechts Israel eine Anerkennung der Nakba, die Vertreibung von 750,000 Palästinensern nicht nur rechtens war sondern auch gerecht, also moralisch gerechtfertigt.
Völkerrechtler und Verhandlungsberater der PLO John Whitbeck beschreibt das Problem so:
“Es ist eine enormer Unterschied zwischen der "Anerkennung der Existenz Israels" und der "Anerkennung des Existenzrechts Israels". Aus palästinensischer Sicht ist der Unterschied in etwa gleich wie der zwischen der Aufforderung an einen Juden, anzuerkennen, dass der Holocaust stattgefunden hat, und der Aufforderung, zuzustimmen, dass der Holocaust moralisch gerechtfertigt war. Für die Palästinenser ist es eine Sache, die Realität der Nakba anzuerkennen [...] Für sie wäre es etwas ganz anderes, öffentlich zuzustimmen, dass es "richtig" war, dass die Nakba passiert ist. Für die jüdischen und palästinensischen Völker stellen der Holocaust und die Nakba Katastrophen und Ungerechtigkeiten in unvorstellbarem Ausmaß dar, die weder vergessen noch vergeben werden können.”
Hier wird klar, was die Anerkennung Israels Existenzrecht für Palästinenser:innen bedeutet. Es wird zudem klar, welche Funktion die Anerkennung eines solchen Rechts in Verhandlungen zwischen Palästinenser:innen und der Israelischen Regierung hat. Es ist eine Art Versicherung für Israel, dass es niemals zu einem nachhaltigen, ebenbürtigen Frieden zwischen Palästina und Israel kommt. Gleichzeitig kann Israel die Schuld daran den Palästinenser:innen geben, weil diese sich weigern die Existenz Israels anzuerkennen. Zudem ist es ein Beweis, dass Israel nie an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert war. Wie sollte man es sonst erklären, dass Israel ihr Existenzrecht als Bedingung für Frieden macht wohlwissend, dass Palästinenser:innen als logische Schlussfolgerung niemals die Nakba als rechtens anerkennen werden.
Das Existenzrecht Israels ist eine rechtliche Fiktion die es Israel ermöglicht den Status Quo der Apartheid aufrechtzuerhalten, die langsame Annektierung und andauernde Nakba voranzutreiben. Es ist eine rhetorische Waffe mit tödlichen Konsequenzen, die nicht nur von Israel effektiv benutzt wird sondern von Deutschland zur Staatsräson erkoren wurde.